Figuren mit Behinderung bei Game of Thrones
Bevor wir aber direkt in das Thema einsteigen, noch zwei kurze Hinweise:
Ich werde NICHT auf einzelne Ereignisse der aktuellen siebten Staffel eingehen. Das heißt, es gibt KEINE akute Spoilergefahr, aber natürlich muss ich inhaltlich arbeiten. Ihr solltet also zumindest die sechste Staffel gesehen haben, ansonsten speichert euch den Artikel für später. :)
Zweitens kenne ich die Bücher noch nicht, ich kann mich nur auf die Serie beziehen.
Jetzt aber Butter bei den Fischen:
Woran denkt ihr als erstes bei Game of Thrones? Krieg, Sex und Macht? Das sind immer wieder Kernthemen bei Game of Thrones. Aber noch viel mehr: Es sind nicht die Themen, die normalerweise nicht mit Menschen mit Behinderung in Verbindung gebracht werden. Doch genau diese Verbindung stellt Game of Thrones her.
Sex, Wine and Rock’n’Roll – Tyrion Lannister
Es gibt dabei kaum eine Figur, die das so verkörpert wie er: Tyrion Lannister hat viel, viel, VIEL Sex und auch, wenn er nicht auf den Thron will, ist er beinah an jeder wichtigen Entscheidung beteiligt – achja: und er ist kleinwüchsig. Seine Behinderung wird zwar immer mal wieder in der Serie thematisiert, aber im Endeffekt sticht er durch sein diplomatisches Talent und die Neigung zum Wein hervor. Vor allem die Sache mit dem Sex sorgt dafür, dass sich seine Rolle so neuartig rüberkommt. Schiebt man das jedoch kurz zur Seite, ist Tyrion nur ein weiteres Beispiel für die Kompensation von Behinderungen. Die geringe Körpergröße wird durch seinen scharfen Verstand und seinem Redetalent quasi aufgewogen. Dieses Erzählmuster ist so alt, dass es schon bei den Märchen der Gebrüder Grimm vorkommt. Auch da gibt es kleinwüchsige Menschen, die Däumlinge heißen. Sie bestehen vor allem durch ihre Klugheit Gefahren und Abenteuer. Diese Figuren kommen natürlich nicht nur bei den Gebrüder Grimm vor, sondern sie leben in den meisten Märchensammlungen von früher. Das heißt also, Tyrion ist quasi der Rock’n’Roll Urenkel dieser märchenhaften Däumlinge. Dass sich Game of Thrones gerne bei Märchen bedient, kann man auch an den nächsten Charakteren erkennen.
Hodor und Bran – Ein Dream-Team?
Auf den ersten Blick sind Bran und Hodor ein echtes Dream-Team. Hodor, der treue Diener, der zwar geistig zurückgeblieben scheint, aber Bran überall hinträgt. Und Bran, der seit der ersten Folge gelähmt, aber mit seinem Verstand frei wie ein Vogel ist. Die beiden Figuren scheinen perfekt zueinander zu passen, da sie sich gegenseitig ergänzen. Auch solche Paare findet man in den Märchen fast überall. Manchmal ist es der Lahme, der den Blinden führt, oder es sind die drei Frauen, die nur zusammen das Spinnrad bedienen können, wie im Märchen „Die Drei Spinnerinnen“. Allerdings ist das Verhältnis von Bran und Hodor schwieriger als in den meisten Märchen. Die US-Wissenschaftlerin Lauryn S. Mayer hat auf der Seite „the atlantic“ ein sehr spannendes Interview gegeben, in dem sie auf das schwierige Machtverhältnis zwischen den beiden hinweist. Immerhin ist Bran nicht nur der Herr von Hodor, sondern maßgeblich für seine Einschränkung verantwortlich, wie man später erfährt. Außerdem hält Mayer auch uns Zuschauer den Spiegel vor: Wir haben viel über Hodor gelacht und erst durch seine Schlüsselrolle wurde er für viele von uns ein ernstzunehmender Charakter. Muss ein Charakter mit geistiger Behinderung erst zum tragischen Held werden, um keine Witzfigur zu sein? Noch dazu wirft Mayer die berechtigte Frage auf, inwieweit Hodor überhaupt geistig eingeschränkt ist, schließlich versteht er fast alle Anweisungen , auch wenn er sich nicht verständlich machen kann.
Krankheit und Entstellung – Es leben die Außenseiter
Neben den wichtigen Figuren gibt es auch noch Nebenfiguren wie zum Beispiel den Bluthund, der durch Verbrennungen im Gesicht entstellt ist. Auch die Prinzessin Sharin Baratheon ist entstellt, allerdings durch eine Krankheit, die sich Grauschuppen nennt. Ab und zu habe ich gelesen, dass diese Narben dazu dienen sollen, dass man noch mehr Mitleid mit den Figuren empfindet. Das ist natürlich möglich, wobei das für mich persönlich eher auf Jamie Lannister und seine Behinderung zutrifft. Aus meiner Erfahrung heraus haben Merkmale wie Narben oder Verbrennungen meist noch einen anderen Zweck: Sie markieren Außenseiter. Eines der bekanntesten Beispiele in der Literatur ist „Der Glöckner Von Notre Dame“. Entstellungen sind ein klassisches Mittel, um das „Anders sein“ einer Figur auch nach außen hin zu zeigen.
Was ist neu?
Wir haben also gesehen, dass Game of Thrones mit vielen alten Mustern arbeitet, wenn es um die Figuren mit Behinderungen geht. Die große Preisfrage bleibt natürlich: Warum erscheint uns das alles so neu? Darauf gibt es gleich mehrere Antworten:
1.) Game of Thrones ist eine Welt, in der man von der einen auf die andere Sekunde behindert werden kann – ähnlich wie in der Realität. Kaum eine Figur ist von Beginn an eingeschränkt, sondern die Behinderungen entstehen durch Unfälle, Strafen oder gar Verbrechen.
2.) Es kommen Charaktere mit Behinderungen in jeder Gesellschaftsschicht vor, so haben wir in Game of Thrones sogar Könige, die im Rollstuhl sitzen (Dorne).
Und …
3.) Wir sind Geschichten gewöhnt, in denen die Behinderung das größtmögliche Unglück für die Charaktere bedeutet. Folglich dreht sich in Büchern oder Filmen wie „Ziemlich Beste Freunde“ oder „Ein Ganzes Halbes Jahr“ alles darum, wie die Figuren mit diesem Unglück umgehen und es im besten Fall sogar überwinden. Auch Game of Thrones thematisiert Probleme, die aus den Einschränkungen entstehen – auch hier dient Tyrion wieder als gutes Beispiel: Immer wenn er auf Familienmitglieder trifft, wird er diskriminiert. Jedoch gibt es beim Kampf um den Thron deutlich größere Probleme, die gelöst werden müssen. So haben die Charaktere gar keine Zeit, in Selbstmitleid zu ertrinken, wenn sie überleben wollen. Neben den Machtkämpfen gibt es ja auch noch das allgegenwärtige Motto: Der Winter naht – und wir wissen ja mittlerweile alle, dass er nicht nur Schnee bringt…
Ich hoffe, dass sich vor allem die GeschichtenerzählerInnen in Deutschland an diesen Punkten orientieren. Dann bekommen wir hoffentlich bald mehr Geschichten mit behinderten Figuren, die eindeutig mehr können, als depressiv aus dem Fenster zu starren.
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